* 14 *
Beetle richtete seine Lampe auf eine Luke an der Decke des Eistunnels. Sie befand sich etwas mehr als einen Meter über ihren Köpfen, und sie konnten sie fast berühren, wenn sie hochsprangen. Die Luke bildete eine ovale Vertiefung mit dem üblichen Metallsiegel darin. Darum herum war eine dünne Schicht aus klarem Eis.
»Siehst du«, sagte Beetle. »Dieselbe Geschichte. Das Eis ist geschmolzen und dann wieder gefroren. Wollen mal sehen ... Ja, sie ist auch wieder versiegelt worden. Eigenartig.«
»Hmm ...«, brummte Septimus. Er war nicht sonderlich überrascht, denn er wusste, wessen Luke das war.
Beetle spähte nach oben. »Natürlich könnte in diesem Fall auch das Siegel auf der anderen Seite beschädigt sein. Manchmal tun die Hausbewohner so etwas. Es wäre schön, wenn wir reingehen und nachsehen könnten, aber da ist vor einiger Zeit so ein komischer Kauz eingezogen. Eine Art Einsiedler, wie es scheint. Der kommt nicht mal an die Tür, wenn man klingelt.«
»Ich weiß«, sagte Septimus. »Und ich finde das schade. Aber er hat sich eben noch nicht richtig eingewöhnt.«
»Kennst du ihn denn, Sep?«, fragte Beetle erstaunt.
Septimus beschloss, seinen Freund ins Vertrauen zu ziehen. Er war es leid, seine Besuche bei Marcellus vor ihm zu verheimlichen. »Ja, ich kenne ihn. Aber ... äh ... Marcia weiß nicht, dass ich ihn besuche. Ich wollte es ihr die ganze Zeit sagen, aber sie ist zurzeit so schlecht gelaunt und ...« Plötzlich fiel ihm etwas ein. »Oh, Mist... Beetle, hast du deine Uhr dabei?«
»Selbstverständlich.« Beetle grinste stolz. Er besaß eine moderne Uhr, die, in ihre Einzelteile zerlegt, in einem Schrank im Manuskriptorium gelegen hatte und eigentlich weggeworfen werden sollte. Er hatte sie gerettet und in monatelanger Kleinarbeit, bei der ihm der Konservator und Restaurator des Manuskriptoriums geholfen hatte, wieder zusammengesetzt. Sie war ein schönes Stück Uhrmacherkunst. Dank eines komplizierten Schwungradmechanismus arbeitete sie völlig geräuschlos und lief, was am wichtigsten war, sehr genau. Stolz zog Beetle die Uhr aus der Tasche. Sie war halb aus Silber, halb aus Gold gefertigt und hing an einem breiten Lederband. Oben am Gehäuse wölbte sich ein dicker Bügel, in dessen Mitte das Rädchen zum Aufziehen saß. Wie eine kleine, plumpe Schildkröte lag sie in seiner Hand.
Septimus war beeindruckt. »Wie haben die das nur gemacht«, fragte er, »dass sie so klein ist?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Beetle. »Solche bekommt man heutzutage nicht mehr.«
Die Zeiger der Uhr näherten sich Mittag. »Oh, Mist«, schimpfte Septimus. »Ich komme zu spät. Jenna wird stinksauer sein.«
»Jenna?« Urplötzlich hatte Beetle eine quiekende Stimme.
»Ja. Ich bin mit ihr hier verabredet und ...«
»Was? Hier?«
»Nein, nicht hier unten. Oben, meine ich.« Septimus deutete zur Luke hinauf. »Im Haus.«
»Wirklich?«
Septimus kam eine Idee. »Willst du nicht mitkommen? Ich könnte Marcellus fragen, ob wir die Luke von innen überprüfen dürfen.«
»Marcellus? Ist das der komische Kauz, der da oben wohnt?«
»Eigentlich ist er kein komischer Kauz«, sagte Septimus. »Er ist das alles nur noch nicht gewohnt.«
»Irgendwie kommt mir der Name bekannt vor«, überlegte Beetle. »He, ist das nicht der Kerl, der dich durch den Spiegel entführt hat? Dieser verrückte alte Alchimist?«
»Äh ... ja«, gestand Septimus. »Aber er ist nicht verrückt. Und alt sieht er auch nicht mehr aus.«
»Aber Alchimist ist er noch«, erwiderte Beetle. »Kein Wunder, dass mit der Luke etwas nicht stimmt. Scheibenkleister. Ich wundere mich, dass wir keine Totalschmelze hatten.«
Septimus fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, Beetle einzuweihen, aber jetzt war es zu spät. »Dann öffne ich jetzt die Luke, einverstanden?«, fragte er. »Ich kann sie anschließend von innen wieder versiegeln.«
Beetle blickte entsetzt. »Eine versiegelte Luke öffnen?«
»Na ja, dann können wir von hier unten aus rein und uns mit Jenna treffen ...«
»Du bist da oben tatsächlich mit Prinzessin Jenna verabredet?«
Septimus nickte und hüpfte auf der Stelle, um sich warm zu halten. Seine Füße fühlten sich langsam wie Eisblöcke an.
Beetle konnte der Versuchung, Jenna zu sehen, nicht widerstehen.
»Na schön«, sagte er. »Aber eigentlich dürfte ich das nicht tun. Miss Djinn bekommt Zustände, wenn sie davon erfährt.« Er holte eine ausziehbare Leiter unter seinem Schlitten hervor, zog sie auseinander und lehnte sie an die Wand. »Ich halte die Leiter, Sep, und du entsiegelst die Luke. So ist es wahrscheinlich besser.«
Zehn Minuten später schritten Beetle und Septimus durch den langen, muffigen Gang, der von der Luke zu dem Haus an der Schlangenhelling führte. Septimus kannte den Weg gut. Bei seinem allerersten Besuch hatte das Haus noch Professor Weasal Van Klampff gehört, und dessen grässliche Haushälterin Una Brakket hatte ihn in Weasals unterirdisches Laboratorium begleitet. Damals war es hier unten noch dunkel und schmutzig gewesen, doch jetzt war der Gang sauber, und in gleichmäßigen Abständen brannten altmodische Binsenlichter in Halterungen an der Wand. Alles war genau so wie in den sechs Monaten, die er als Marcellus Pyes Alchimielehrling in einer anderen Zeit verbracht hatte. Zügig ging er mit Beetle an der Abzweigung zum alten Laboratorium vorbei und folgte dem langen, zickzackförmigen Gang, der unter den Häusern durchführte, die an den Burggraben grenzten.
Bald erreichten sie das Ende des Gangs und gelangten in die großen Gewölbekeller des Hauses. Septimus durchquerte sie, und da er fürchtete, zu spät zu seiner Verabredung mit Jenna zu kommen, rannte er die Stufen hinauf und stieß die Kellertür unter der Treppe auf. »Marcellus?«, rief er laut. »Marcellus?« Es kam keine Antwort.
Septimus trat ins Haus, und Beetle folgte ihm mit einem mulmigen Gefühl. Irgendwie roch es hier eigenartig. In den Geruch von Kerzenwachs mischte sich ein bittersüßer Duft von Orangen, Gewürznelken und etwas anderem, das Beetle nicht einordnen konnte. Er hatte das Gefühl, er sei in der Zeit zurückgereist. Auf Septimus hatte das Haus dieselbe Wirkung. Zwar hatte er sich mittlerweile daran gewöhnt, doch bei seinem ersten Besuch, kurz nachdem Marcellus eingezogen war, hatte er einen Augenblick lang geglaubt, er sei immer noch in der Zeit des alten Alchimisten gefangen und seine Rückkehr in seine eigene Zeit sei nur ein Traum gewesen. In panischem Schrecken war er aus dem Haus gerannt, und zu seiner großen Erleichterung eilte gerade Jillie Djinn draußen vorbei. Jillie wusste nicht, wie ihr geschah, als ihr Marcias Lehrling um den Hals fiel und sagte, dass er überglücklich sei, sie zu sehen. An jenem Morgen hatte sie mit beschwingten Schritten ihren Weg ins Manuskriptorium fortgesetzt. Es kam nicht häufig vor, dass jemand Jillie Djinn um den Hals fiel.
Die Stille im Haus legte sich wie eine Decke auf Septimus und Beetle. Sie durchquerten die enge Diele, die mit mehr Kerzen erleuchtet war, als Beetle in seinem ganzen Leben gesehen hatte, und gelangten an eine steile Treppe aus dunklem Eichenholz. Mit Erstaunen bemerkte Beetle, dass auf jeder Stufe eine brennende Kerze stand. Langsam wurde es ihm unheimlich.
»Gespenstisch, die vielen Kerzen«, flüsterte er.
»Er mag die Dunkelheit nicht«, flüsterte Septimus zurück. »Pst. Ich höre Schritte. Marcellus? Marcell...us!«, rief er laut.
»Lehrling?«, antwortete eine Stimme misstrauisch von oben herunter. »Bist du das?«
»Ja, ich bin’s«, antwortete Septimus.
Schwere Schritte erklangen auf der Treppe, und dann bot sich Beetle ein Anblick, der so eigentümlich war, dass er ihn sein Leben lang nie vergessen sollte. Im Schein der Kerzen, die ihn von unten anleuchteten, kam langsam ein dunkelhaariger junger Mann mit einem altmodischen Haarschnitt die Stufen herab. Er trug die schwarz-goldene Tracht eines Alchimisten, die Beetle von alten Stichen kannte. Die Ärmel seines Gewands waren in Beetles Augen lächerlich lang und schleiften hinter ihm über die Stufen. Passend dazu trug er die merkwürdigsten Schuhe, die Beetle in seinem ganzen Leben gesehen hatte: Ihre Spitzen mochten gut einen halben Meter lang sein, bogen sich nach hinten und waren an Sockenhaltern festgebunden, die direkt unter den Knien saßen. Plötzlich merkte Beetle, dass ihm die Kinnlade heruntergefallen war, und er klappte sie schnell wieder hoch. Der junge Mann erreichte den Fuß der Treppe, und Septimus sagte: »Marcellus, das ist mein Freund Beetle. Er arbeitet im Manuskriptorium. Beetle, das ist Marcellus Pye.«
Ein unwirkliches Gefühl beschlich Beetle. Marcellus Pye war fünfhundert Jahre alt. Er war der letzte Alchimist. Seine Schriften waren verboten, sogar im Manuskriptorium, und er, Beetle, war ihm soeben vorgestellt worden. Es war nicht zu fassen.
Marcellus Pye streckte ihm die Hand entgegen und sagte mit einem etwas eigenartigen Akzent: »Willkommen. Ihr jungen Schreiber leistet großartige Arbeit. Großartige Arbeit.«
Beetle blickte verstört wie ein verirrtes Schaf und brachte nur ein leises Blöken zustande.
Ein kurzer Stups zeigte dem Schaf, wo es langging. »Oh ... vielen Dank«, sagte Beetle und drückte die dargebotene Hand. Zu seiner Erleichterung war sie warm und nicht eiskalt, wie er erwartet hatte. »Aber ich bin kein Schreiber. Ich bin der Prüfgehilfe. Ich kontrolliere die versiegelten Luken in den Eistunneln.«
»Ah ja«, sagte Marcellus. »Ein notwendiges Übel, das, wie ich hoffe, eines nicht allzu fernen Tages beseitigt werden kann.«
»Dazu kann ich nichts sagen«, erwiderte Beetle, nun in dienstlichem Ton. »Ich weiß nur, dass die Luke zu diesem Haus unlängst entsiegelt worden ist.«
»Möglich. Aber nicht für lange. Ich habe sie wieder versiegelt. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen.«
»Aber ...« Beetle wurde durch das Läuten einer Glocke über seinem Kopf unterbrochen.
Marcellus zuckte bei dem Geräusch zusammen. In seinem Gesicht spiegelte sich panischer Schrecken wider.
»Das ist die Türglocke«, sagte er und blickte zur Tür.
»Soll ich aufmachen?«, erbot sich Septimus.
»Muss das sein?«, fragte Marcellus.
»Sie sollten mehr Umgang pflegen, Marcellus«, schalt ihn Septimus. »Es tut Ihnen nicht gut, wenn Sie sich so verkriechen.«
»Aber die Sonne scheint so hell, und draußen herrscht so ein Lärm, Lehrling.«
Wieder schlug die Türglocke an, energischer diesmal.
»Das wird Jenna sein«, sagte Septimus, den es in den Fingern juckte, die Tür zu öffnen. »Sie haben doch erlaubt, dass ich sie herbringe, wissen Sie noch? Sie sagten, Sie seien bereit, uns zu erzählen, was geschehen ist. Mit Nicko.«
Marcellus blickte verwirrt. »Mit Nicko?«, fragte er.
Septimus seufzte innerlich. Seit nunmehr sechs Monaten versuchte er, Marcellus dazu zu bringen, ihm zu sagen, was er über Nicko wusste, und vor wenigen Tagen hatte er sich endlich dazu bereit erklärt. Doch allem Anschein nach hatte er es vergessen – wieder einmal. Septimus konnte sich nur schwer daran gewöhnen, dass Marcellus Pye wie ein junger Mann aussah, sich häufig aber wie ein Greis verhielt. Im Lauf der Jahrhunderte hatte er Gewohnheiten angenommen, die schwer wieder abzulegen waren. So fiel er immer wieder in einen schlurfenden Gang oder nörgelte wie ein alter Mann. Doch die größte Sorge bereitete Septimus das schlechte Gedächtnis des Alchimisten. Gereizt hatte er Marcellus vorgeworfen, er sei nur zu faul, sich etwas zu merken. Doch der hatte ihm entgegengehalten, dass in seinem Kopf Erinnerungen aus fünfhundert Jahren gespeichert seien. Wo, bitte schön, sollte er den Platz für all die neuen hernehmen?
Septimus seufzte. Er ließ den unschlüssigen Marcellus in der Diele stehen, ging zur Tür und öffnete.
»Sep!«, rief Jenna und klang erleichtert. Sie stand vom Wind zerzaust und fröstelnd vor der Tür. Sie war fest in ihren dicken roten Wintermantel gewickelt, und das dunkle Haar hing ihr in nassen Strähnen ums Gesicht. »Du hast dir aber Zeit gelassen«, sagte sie und stampfte, weil sie kalte Füße hatte. »Es ist scheußlich hier draußen. Willst du mich nicht reinlassen?«
»Die Parole, wenn ich bitten darf«, erwiderte Septimus, plötzlich ernst.
Jenna runzelte die Stirn. »Was für eine Parole?«
»Kennst du sie etwa nicht?«
»Nein. Oh, Mist. Kannst du mich nicht trotzdem reinlassen?«
»Hmm ... Ich weiß nicht recht.«
»Sep, ich erfriere hier draußen. Bitte.«
»Na schön. Weil du es bist.«
Er trat beiseite. Jenna stürmte herein und schüttelte die Regentropfen von ihrem Mantel. Plötzlich hielt sie inne und musterte Septimus argwöhnisch. »Es gibt gar keine Parole, stimmt’s?«
»Ne«, grinste Septimus.
»Du gemeiner Kerl!«, lachte Jenna und gab ihm einen Stoß. »Oh, guten Tag, Beetle. Schön, dich zu sehen.«
Beetle bekam einen roten Kopf, und nicht zum ersten Mal stellte er fest, dass er plötzlich das Sprechen verlernt hatte, aber Jenna schien es nicht zu bemerken. Sie war damit beschäftigt, eine kleine rote Katze unter ihrem Mantel hervorzuziehen und sich unter den Arm zu klemmen. Beetle war überrascht. Er hätte nicht gedacht, dass Jenna eine Katze hatte. Dann sagte Marcellus aus einem ihm unerfindlichen Grund: »Willkommen, Esmeralda.«
»Vielen Dank, Marcellus«, erwiderte Jenna und musste schmunzeln. Sie hatte fast schon vergessen, dass sie in Marcellus Pyes Zeit immerzu mit Prinzessin Esmeralda verwechselt worden war.
Dann machte Marcellus eine altmodische Verbeugung und sagte: »Prinzessin, Lehrling, Schreiber – bitte, mir zu folgen.«
Einen Augenblick später stieg Beetle hinter den anderen die Treppe hinauf, und während er im Zickzack tropfende Kerzen umkurvte, fragte er sich, in was er da hineingeraten war. Und wie er das alles Miss Djinn erklären sollte, wenn sie dahinterkam, denn das tat sie immer.